KETI
              BANDAR. In Keti Bandar hat die Zukunft schon begonnen.
              Sie holt den Besucher ein, noch bevor er die Stadt zu sehen bekommt.
              An
              einem Entwässerungskanal zehn Kilometer außerhalb der
              früheren Hafenstadt im Indus-Delta machen sich zwei Männer
              an einer Pumpe zu schaffen, mit der sie trübes Wasser in zwei
              alte Öltonnen abfüllen. 800 Rupien werden sie in Keti
              Bandar dafür bekommen. Zwei Liter Wasser sind dort so viel
              wert wie ein Kilogramm Weizen.
                          Für die Bewohner der Stadt ist dieser Kanal der nächstgelegene,
              aus dem sie ihr Süßwasser beziehen können. Ein Stauwehr
              gegen die Gezeiten schützt den Kanal vor dem Tidenhub des Arabischen
              Meeres. Irgendwo in der Nähe dieser Wasserstelle muss die unsichtbare
              Grenze zwischen Land und Meer liegen, zwischen Salz- und Süßwasser
              - und zwischen Leben und Überleben. Das Land ist noch fruchtbar,
              Bananenstauden sind zu sehen, Schilf, Getreidefelder. Aber die ausgetrockneten
              Mulden sind bereits mit weißem Schaum überdeckt, den
              Krusten von Salzkristallen.
           Je
              näher man Keti Bandar kommt, desto mehr schrumpft die Vegetation,
                bis rechts und links von der Dammstraße nur noch Wattenmeer
                ist. Der Horizont ist ein in der Hitze flimmernder Streifen. Nichts
                verrät die sich nähernde Fischerstadt, denn die einstöckigen
                Häuser kauern hinter einem Erddamm. Endlich in der Stadt angelangt,
                könnte die Hauptstraße durch jeden x-beliebigen Slum führen,
                ein langgezogener Basar mit Läden, deren Ware aus den schwarzen
                Höhlen auf die Straße quillt. Dazwischen tauchen offene
                Schuppen auf, in denen ein Billardtisch, ein Fußball-Kasten
                oder ein Brett des Carom-Spiels stehen. Früher war Keti Bandar
                eine richtige Stadt, heute ist es ein Nest von 1.800 Einwohnern.
                In dem einzigen Laden mit Schaufenstern reiht sich auf den Regalen
                entlang der Wände, vom Boden bis zur Decke, das lokale Luxusprodukt:
                Mineralwasserflaschen, Reihe um Reihe, jede Flasche so teuer
                wie vier Kilogramm Reis.
           Tonnen
              fruchtbarer Sand                
          Keti
              Bandar soll einst die reichste Hafenstadt der Region gewesen sein.
              Die Einkünfte aus Fischfang und Seehandel erlaubten den
                    Machthabern, der Stadt Karatschi Geld zu leihen. Das fruchtbare Schwemmland
                    des Indus im Rücken machte Keti Bandar gleichzeitig zu einem
                    Reislieferanten für den ganzen Subkontinent. Die Gegenbewegung
                    setzte ab Mitte des 19. Jahrhunderts ein, als die britischen Kolonialherren
                    den Pandschab - das Fünfstromland - mit einem dichten Kanalnetz
                    durchzogen und die ersten großen Wasserreservoirs bauten. Nach
                    der Unabhängigkeit hat Pakistan diese Verteilung des Wassersegens
                    fortgesetzt und zusätzlich Kraftwerke gebaut. Heutzutage bilden
                    die Kanäle im oberen Sindh und im Pandschab das größte
                    zusammenhängende Bewässerungssystem der Welt. Achtzig Prozent
                    des Induswassers wird abgezweigt und bewässert drei
                    Viertel der Landwirtschaft des Landes. 
           Doch
              Flusswasser lässt sich nicht einfach in Kanäle und
                      Felder lenken und dann sich selbst überlassen. Die fehlende
                      Entwässerung der Böden führte zur raschen Versalzung.
                      Bereits 1982 lag das Grundwasser in 95 Prozent des bewässerten
                      Landes nur 2,5 Meter unter dem Boden. Der Salzgehalt nahm jedes Jahr
                      um eine Tonne pro Viertelhektar zu. Unter Führung der Weltbank
                      wurde daher der "Left Bank Outfall Drain" geschaffen, der
                      den Boden entwässerte und das salzhaltige Wasser aus den Grundwasserschichten
                      pumpte und abführte (siehe Kasten). Nach Meinung des Wasserbauingenieurs
                      Asif Rauf Khan war es bereits zu spät. Er hat für die pakistanische
                      Regierung und die Asiatische Entwicklungsbank Gutachten über
                      die Auswirkungen der Bewässerungsprojekte erstellt. Die intensive
                      Nutzung von Induswasser hatte dem Land zwar zu seiner grünen
                      Revolution verholfen. Doch die verringerten Wassermengen und die
                      schwache Strömung im Indus setzten den Schlamm am Oberlauf und
                      in den Stauseen ab, statt ihn ins Delta zu führen.
           Die
              Wasserknappheit in Keti Bandar sticht deshalb so hervor, weil der
              Ort von Wasser umgeben ist. Er liegt am Hajamro
                        Creek, einem
                        der 17 Arme, in denen sich der Indus ins Meer ergießt. Das
                        Wasser ist hier allerdings längst nicht mehr süß,
                        und die rund 200 Fischerdörfer, die diesen Arm weitere zehn
                        Kilometer in die offene See begleiten, hocken auf Stelzen auf den
                        vegetationslosen Sandbänken. "Darum haben wir so viele
                        Billardtische", sagt unser Begleiter Akhtar Samoo. "In
                        den Dörfern gibt es nichts, womit die Fischer die Zeit totschlagen
                        können." Sie sitzen auf tonnenweise fruchtbarem Schlamm,
                        den der Indus und dessen Zuflüsse aus dem Himalaja hier abgelagert
                        haben. Doch das Meer hat dafür gesorgt, dass nichts mehr wächst.
                        Nicht einmal Mangroven. 
           Das
              Delta versalzt                
          Denn
              das Meer hat schon lange zur Rückeroberung seines verlorenen
                            Territoriums angesetzt. Gemäß dem jüngsten Zwischenbericht
                            des IPCC-Expertengremiums zum Klimawandel ist in der Küstenregion
                            Pakistans der Meeresspiegel in den vergangenen zwei Jahrzehnten um
                            17 Zentimeter angestiegen. Daher ist mehr Salzwasser aus dem Meer
                            in das Delta geflossen und hat das fruchtbare Schlammland rasch zerstört.
                            In den vergangenen zwanzig Jahren soll der aktive Teil des Deltas
                            von 2.000 Quadratkilometern auf ein Zehntel dieser Größe
                          geschrumpft sein. 
           Nirgends
              zeigt sich die Landnahme des Meeres deutlicher als in Keti Bandar.
              Der armselige Ort hat nichts
                              mehr mit der
                              früher reichen
                              Hafenstadt gemein. "Ihre Überreste liegen auf dem Meeresgrund,
                              15 Kilometer vom heutigen Standort entfernt", sagt Hote Khan
                              Jamali, ein Mitarbeiter des WWF Pakistan, der in Keti Bandar ein
                              Büro unterhält. Zwischen dem heutigen Ort und der alten
                              Hafenstadt stand bereits einmal eine Rückzugssiedlung
                              gleichen Namens, bevor auch sie aufgegeben wurde
                              und die Stadt am heutigen
                              Standort landete. Der Trinkwasserladen mit seinen
                              teuren Flaschen zeigt, dass es keine sichere Landung
                          war. 
           Keine
              Arbeit ohne Wasser                
          Der
              Staat hat bereits kapituliert. Die Schulen werden von islamischen
              Wohlfahrtsorganisationen
                                  geführt, das kleine Krankenhaus ist
                                  leer, obwohl zahlreiche durch Wasser übertragbare Krankheiten
                                  wie Durchfall, Malaria, Typhus und Gelbfieber die Bevölkerung
                                  quälen. Eine langgezogene Markthalle wurde gar nicht mehr zu
                                  Ende gebaut. Lediglich Hilfsorganisationen wie ActionAid und WWF
                                  versuchen noch, den Frauen Einkommensmöglichkeiten zu schaffen.
                                  Sie verkaufen Trinkwasser oder flicken Fischernetze, was früher
                                  ausschließlich die Männer machten. Heute gilt diese Arbeit
                                  als zu schäbig für Männer, denn Fischer sind die großen
                          Verlierer im Delta. 
          Die
              Frauen züchten mit Hilfe der Organisationen
                                    auch Makrelen und Hühner anstatt wie früher Garnelen. Diese
                                    lukrative Zucht ist eingegangen, da die Mangrovenwälder in den
                                    Dhands - dem Sumpfgebiet aus Süß- und Salzwasser - verschwunden
                                    sind. Die Männer haben sich inzwischen als Arbeiter auf den
                                    großen Kuttern verdingt, die vor dem Delta ihre Tiefwassernetze
                                    ziehen. Die Frauen, die sich im WWF-Büro für ein Treffen
                                    versammelt haben, haben geschworen, Keti Bandar nicht zu verlassen. "Bis
                                    wir untergehen", sagt Sayeda Balawatti, die Frauenbeauftragte
                                    von ActionAid, trotzig. Doch im Gespräch wird klar, dass die
                                    ständige Verteuerung des Trinkwassers sie schließlich
                                    doch zwingen wird, nach Keti Bandar Nummer 4 oder vielleicht in einen
                                    Slum nach Karatschi zu ziehen. Akhtar Samoo drückt es so aus: "Wasser
                                    ist das Wichtigste. Unser Leben hängt
                          davon ab, nicht nur das der Fische." 
           Gefahr
              für die Delta-Bewohner kommt aber nicht nur vom Meer,
                                      sie kommt auch vom Land - und vom Klima, denn die Niederschlagsmuster
                                      haben sich verändert. In den Jahren 1998 und 1999 führte
                                      der Indus Hochwasser, und die Reservoire am Oberlauf, auch als Ausgleichsbecken
                                      gedacht, konnten die Wassermassen nicht mehr stauen. Deren Becken
                                      sind inzwischen so stark versandet, dass sie nur noch einen Bruchteil
                                      der ursprünglichen Kapazität
                          speichern.
           Das
              schnell voranschreitende Schmelzen
                                        der Himalaja-Gletscher, die 70 bis 80
              Prozent der Indus-Wassermenge liefern,
                                        hat diese heftigen
                                        saisonalen Ausschläge noch verstärkt. 20 bis 30 Prozent
                                        der Flusswassermenge stammen aus Niederschlägen. Zwischen 2000
                                        und 2002 erlebte Pakistan eine dreijährige Trockenheit, bis
                                        ein Jahr danach heftige Regenfälle am Oberlauf mit einem Zyklon
                                        im Mündungsgebiet zusammenkamen. Doch anstatt dass die Kanäle
                                        die Wassermassen abführen, strömte durch die Kanäle
                                        das Meerwasser tief in das Delta hinein. Stauwehre und Erddämme
                                        gaben dem Druck nach und barsten, Salzwasser floss ins weitverzweigte
                                        Netz der Entwässerungskanäle
                                        und kontaminierte das Grundwasser. Mehrere
                                        tausend
                                        Bauern und Fischer
                                        mussten in die Stadt Badin fliehen
                                        - das erste Symptom einer Bewegung, die
                                        in der Flucht beginnt und in der Umsiedlung
                          endet.
           Das
              idyllische Bild, das sich dem Besucher an einem späten Nachmittag
                                          beim Teestand von Shekhani Garhi bietet, täuscht. Ein Dutzend
                                          Bauern sitzen unter einem Neem-Baum auf Pritschen und schlürfen
                                          Tee, hinter ihnen ein großer Kanal voll Wasser, über den
                                          der Blick auf das "Rann of Kutch", die Nasswüste,
                                          geht, in der irgendwo die indisch-pakistanische Grenze verläuft.
                                          Die üblichen Macho-Symbole im Habitus der Teehausgäste
                                          - breite Schnauzbärte, buschige Augenbrauen, Turban, Stock -
                                          passen schlecht zu ihrer niedergeschlagenen Stimmung. Die Männer
                                          sitzen still, murmeln höchstens zustimmend, wenn der achtzigjährige
                                          Patriarch Nato Khan zu seiner Wehklage ansetzt. Es ist eine Geschichte
                                          von verlorenem Landbesitz, verdorrten Äckern,
                                          brackigem Wasser - und Erinnerungen
                          ans Paradies.
           In
              den 1930er-Jahren hätten hier tausendköpfige Herden,
                                            von weit her kommend, ihr Weideland gefunden, "und ein Morgen
                                            Land brachte 1.600 Kilo Weizen". Heute besitzt Khan statt wie
                                            früher hundert Büffeln nur noch einen - und auch diesen
                                            muss er noch mit einem andern Bauern teilen. "In meinem Weiler
                                            gab es über hundert Haushalte. Heute sind es noch sieben. Die
                                            nächste Schule ist vierzehn Kilometer
                          weit weg." 
           Kanal
              am Point Zero                
          Die
              Schuld dafür trägt in den Augen der Bauern der Entwässerungskanal
                                                hinter ihnen. Der Teeladen liegt am "Point Zero", dort,
                                                wo sich früher der LBOD-Abfluss im Moor des Padeji-Dhand entleerte
                                                und damit den Nullpunkt des Kanals markierte. Doch dann wurde im
                                                Rahmen des "National Drainage Program" der Kanal noch einmal
                                                42 Kilometer weiter bis ins Meer geführt. "Auch außerhalb
                                                des Monsuns kommt an drei Tagen im Monat das Meerwasser bis hierher",
                                                sagt Nato Khan. Und sollte es in diesem Jahr "weiter oben" wie
                                                schon 2003 wieder hohe Niederschläge geben, "sehe ich eine
                          Katastrophe kommen". 
           Auf
              der anderen Seite des Kanals werfen Traktoren Land über
                                                  die Erddämme. Die Bauern wissen nicht, dass sich der Meeresspiegel
                                                  bereits um 17 Zentimeter erhöht hat. Aber sie spüren die
                                                  Folgen. "Seht, sie verstärken den Damm", sagt Nato
                                                  Khan. "In zwei Monaten beginnt der Regen. Und wenn das Hochwasser
                                                  wie vor vier Jahren wieder vom Meer kommt, ist so viel Salzwasser
                                                  im Boden, dass wir hier ganz aufgeben können.
                                                  Denn nun kommt mit dem Regen
                          auch die Flut."